Kapitel 4 – Aurelia erfährt von ihrer Bestimmung und kommt davon ab (Gefährliche Fänge)


Der Schwenk zurück ins Gebirge wirft den Blick im vierten Kapitel zunächst auf die Geschehnisse, mit denen Aurelia nun im Äußeren tatsächlich aus ihrer Kindheit gerissen wird. Dass sich dies ereignet, konnte der Leser bereits nach dem Ende des Eingangsabschnittes ahnen. Die Eltern hatten bereits vor dem Kamin schweren Herzens die richtigen Schlussfolgerungen gezogen. Prompt startet der Hausherr des Morgens mit der Schaufel seine Suche nach dem mit eigener Hand vergrabenen Kleinod. Sein Vorhaben will und kann ihm nicht gelingen. Was dreizehn Jahre unterdrückt wurde, lässt sich so einfach nicht „ausbuddeln“, gleich wenn es jetzt angestrebt wird. Im Grunde steht ja die geheimnisvolle Mitgift im übertragenen Sinn für das Anderssein des blonden Mädchens, für ihre Abstammung aus einer fremden Welt.

Hinter dem für die Story wichtigen Unvermögen des Vaters, das Kästchen seines Himmelskindes zu finden, habe ich ein paar Andeutungen aus meinem Leben kaschiert. Zum einen die erfrischende Angewohnheit meiner Angetrauten, immer mal wieder das Haus umzukrempeln. Turnusmäßig erwacht in ihr der verdrängte Innenarchitekt, wobei im Roman diese liebenswerte Marotte auf den Garten verlagert worden ist. Zum anderen eine Reminiszenz an meine Großeltern. Als selbständige Handwerker waren diese zu DDR-Zeiten gemachte Leute und die Geburtstagsfeiern von ihnen im Herbst waren stets Höhepunkte im Familiendasein. Die Daten der Wiegenfeste habe ich nicht eins zu eins übernehmen wollen, auch der Abmessungen wegen, aber eine Jungfrau-Waage-Kombination ist es geworden, die eine Gemeinsamkeit des Paares der Altvorderen mit meiner Frau und mir darstellt. Nicht zufällig bewohnen wir ja derzeit das Haus der beiden.

Ein kleiner Tipp für den Alltag sowie eine Anspielung enthält die kleine Episode obendrein: Sich beim Verstecken von Wertsachen auf das Gedächtnis zu verlassen, ist unzuverlässig und gefährlich. Mir war es schon beschieden, eine Geldkassette aufbrechen zu müssen, weil meine sicherheitsbewusste Gattin den Schlüssel so gut verborgen hatte, dass sie selbst nicht in der Lage war, ihn wieder aufzuspüren. Warum wohl überraschen immer wieder Schätze im Dachboden, in Feldern etc.? Nicht jeder davon wird das Überbleibsel des vorzeitigen Verscheidens der Besitzer gewesen sein.

Es folgt ein Dialog zwischen den Zieheltern und Aurelia, der die Heldin der Trilogie in Konfusion stürzt. Sie bemüht sich, ihr Erweckungserlebnis zunächst zu verdrängen. Eine natürliche Sehnsucht, im Behütetsein der Kindheit zu verharren, trägt dazu bei. Zu absurd erscheint ihr im Nachhinein, was ihr in der Höhle und davor passiert war, erst recht die Ableitungen, welche die Bergbauern daraus konstruieren. Der Drache und seine Machtmittel waren in ihrem Leben bisher nur als Gerücht aufgetaucht. Nun stellt sich heraus, sie soll dazu auserkoren sein, ihn zu besiegen. Kein Wunder, dass sie abwiegelt.

In das Gespräch habe ich versucht, die eine oder andere Botschaft für meine Kinder einzuweben. Ganz wichtig: Der Hinweis auf die innere Stimme als Ausdruck universeller Weisheit. Auf diese hören zu lernen und idealerweise von dieser geleitet zu werden, wollte ich unbedingt als nützlichen Wegweiser einbauen. Natürlich setzt dieses Gespür voraus, sich von trügerischen Fremdeinflüssen (vornehmlich Presse, Rundfunk, Fernsehen und die Erzeugnisse der Ablenkungsindustrie) fernzuhalten. Die Antennen müssen geschärft, das Gefäß ungetrübt sein. So lässt sich nicht nur eine der wichtigsten Fragen für junge Menschen lösen, nämlich: Welcher Platz wartet im Leben auf mich und wie erkenne ich den? Obendrein leitet dieser Kompass selbst bei trivialen und praktischen Alltagsdingen höchst effizient. Inspiriert zu sein – wer das beherrscht, dem wird das Dasein zur Freude und zur Lust.

Nichtsdestotrotz beginnt es Aurelia zu dämmern, so komplett falsch können die guten Leute, die sie umsorgt haben, nicht liegen. Sie lechzt nach Klarheit und greift gern den Vorschlag auf, die wertvolle Truhe im Garten zu suchen. Zweifellos ist ihre Intension eine andere. Sie wünscht sich einen gegenteiligen Beweis. Ihre Mutter kann dies erahnen und hilft ihr mental, sich zu öffnen. Gerade dieses Ungezwungensein von beiden Seiten ist es, was die Erkenntnis zum Reifen bringt.

Die Maid wird in einen Zustand versetzt, mit dem ich eine höherdimensionale Existenz andeuten wollte. Es ist wohl herauszulesen, dass plötzlich ihre andere Seite, ihre Herkunft, Dominanz gewinnt, um sie mit dem mysteriösen Mitbringsel zu vereinen, das ihr von dorther mitgegeben wurde. Das Katapultiert-Werden in ein anderes Erfahrungsuniversum reicht ihr bereits, um sich ihrer selbst bewusst zu werden. Der ultimative Beleg erfolgt unmittelbar, indem sich die goldene Truhe genau dort verbirgt, wohin sie in dem tranceähnlichen Zustand gerufen worden war.

Ein Behältnis verhüllt üblicherweise einen Inhalt, wird nicht zum Selbstzweck geschaffen. Allerdings verweigert Aurelias Schmuckstück hartnäckig sein Inneres zu offenbaren. Die Eltern wussten nichts damit anzufangen, was logisch erscheint. Aber auch Aurelia vermag es nicht, dem Rätsel auf die Spur zu kommen. Sie ist zu sehr in ihrem Milieu gefesselt, als dass sie dieser Seite in sich Platz einräumen konnte – oder wollte. Sie hatte sich mit der Familienidylle arrangiert und hätte sie ohne Anschub von außen sicher nie aufgekündigt. Nicht von ungefähr zelebrieren die Drei die Harmonie zwischen ihnen noch einmal.

Die Realität kann dennoch nicht ausgeblendet werden. Das ist den Gebirgsbauern präsent und sie stellen sich dem Unvermeidlichen. Aurelia wird die Gelegenheit eingeräumt, sich von ihrem vertrauten Umfeld zu verabschieden, derweil die Mutter für die Vorräte sorgt. Wie es sich für ein ordentliches Märchen gehört, erhält die Jungfer sodann Zaubergaben für ihren weiteren Weg. Der Dreiklang von Bildung, Erziehung und Segen ist es, den Kinder aus ihrem Elternhaus mitnehmen sollten. Fantasy versteckt dies gern hinter wundersamen Sachen. Bei mir ist es ein Kamm und ein Spiegel, der jeweils die Familientradition oder besser die gesammelte Weisheit der Vorfahren symbolisiert, die übereignet wird.

Von der männlichen Linie empfängt die Jungfer ein Schwert, sprich einen Gegenstand der Wehrhaftigkeit in Gestalt einer scharfen Klinge, die durch eine Beschwörungsformel aktiviert wird. „Hilf mir Vater, rette dein Erbe, dass der Feind es nicht verderbe!“ Der Vater garniert die Übergabe mit einer Warnung vor der Waffe. Diese zu zücken, muss stets die Ultima Ratio sein.

Das Sprüchlein für die Verwandlung des Kamms ist mir nicht einfach so in den Sinn geschossen. Für den Bezug muss ich ein wenig weiter ausholen. Hätte ich in dieser Scheindemokratie etwas zu sagen, würde ich vieles ändern wollen und gewiss auch die Peinlichkeit mit unserer Hymne auflösen. Wir erachten diese zwar einerseits für würdig, zum 175. Geburtstag ihrer Kreation eine Gedenkmünze dafür zu gestalten. Andererseits trauen wir uns aber nur die dritte Strophe davon zu intonieren, von einem Gesang, der mit „Lied der Deutschen“ übertitelt ist. Für mich ein sichtbares und skandalöses Zeichen von (selbst gewählter oder anerzogener) Sklaverei.

Für meinen Teil empfinde ich das Lied „Großer Gott wir loben Dich!“ als eine erwägenswerte Alternative. Wer den Text auswendig parat hat (oder im Gotteslob nachschlägt), wird die Anleihe von dort identifizieren können (Strophe 9: Sieh Dein Volk in Gnaden an, …). Nicht nur in der Wendezeit durfte ich erleben, was das Singen der feierlichen, getragenen F-Dur-Melodie mit diesen dem Te Deum nachgedichteten Zeilen für eine positive Kraft entfalten kann. Eine Kirche oder ein Marktplatz voll Menschen im Gesang vereint, entfesselt ein wahres Feuerwerk von Schöpfertum zum Guten.

Zurück zu den Zaubergaben. Die Mutter überreicht einen Spiegel, mit dem sich Vergangenes oder Gegenwärtiges anzeigen lässt. Es ist ein Symbol ihrer Herzensweisheit, das sie an die Tochter vererbt. Die Anlehnung an „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer…“ ist gewiss auffällig. Ein paar Wiedererkennungseffekte sind für mein jüngstes Töchterlein eingeflochten, für die das Werk ursprünglich als Kolportage-Märchen geschrieben wurde (siehe: Wie Aurelia & Adalwin entstanden). Von vornherein habe ich eine Begrenzung des wundersamen Mittels eingebaut. Die Hilfe der Eltern soll ja lediglich den Übergang, das Auswildern begleiten. Der grüne Tropfen, den Aurelia am Schluss des ersten Bandes erhält, ist dann gewissermaßen der Ersatz, die Metapher für die eigene, erworbene Urteilsfähigkeit.

Als nächste Episode folgt nach dem tatsächlichen Abschied ein Geschehen, in dem für den in Sachen Klassik bewanderte Leser sicherlich die Geschichte von Philemon und Baucis durchschimmern wird. Die Eltern entlassen ihr Kind mit Dankbarkeit im Herzen. Das wollte ich unterstreichen. Die kleine Schwester der Liebe schafft das Glück. Nicht der Verlust wird in den Fokus gerückt, sondern die Freude an dem, was geschenkt wurde.

Dann braust die ausgeschickte Soldatestka heran. Als ich dieses Kapitel seinerzeit schrieb, hatten wir gerade einen Raubüberfall vom Finanzamt, anders kann ich das, was damals bei der Betriebsprüfung passierte, auch heute nicht bezeichnen. Die Rücksichtslosigkeit und Willkür, mit der wir konfrontiert wurden, mag dazu beigetragen haben, das Symbol der Drachensöldner zu kreieren. Der deutsche Adler kann sich zum Untier umgestalten, wie wir seither wissen.

In dem Erleben von Aurelia manifestiert sich die Brutalität der Soldaten, die ohne zu zögern den Tod bringen. Allerdings wird wie bei dem griechischen Ehepaar dessen redliches Leben belohnt, indem den Alten der Schmerz erspart und sich ein Herzenswunsch von ihnen verwirklicht. Ihr Daseinszweck ist erfüllt. Gelassen sehen sie ihrem Ende entgegen. Sie laufen nicht davon, ruhen in sich. Wohl dem, der diese Stufe erklimmt. Für mich ist es ein ganz wichtiges Ziel, Ähnliches zu erreichen. (So kühn, vom Aufstieg oder Ausbruch aus dem Rad der Wiedergeburten zu träumen, bin ich denn doch nicht). Wie viele lebende Leichname klammern sich in unseren Alten- und Pflegeheime an ein kümmerliches Dahinvegetieren, weil sie nicht zur Weisheit gelangen konnten. Indirekt haben sie so ihren Anteil geleistet, zum Opfer eines Milliarden-Geschäftes zu werden. Insofern will mir das, was unsere Altvorderen noch vermochten, friedlich und zum rechten Zeitpunkt einzuschlafen, als lukratives Ideal erscheinen.

Kehren wir zu Gustav Schwab zurück! Statt zur Eiche und Linde werden die beiden Bergbauern bei mir zu Ulmen, dem dritten typisch deutschen Baum, die – Ausdruck ihrer Verbundenheit – nebeneinander aufgeschossen nur eine, gemeinsame Krone ausgebildet haben. Eingeflochten ist vor dem Tod der Eltern eine Rückschau der blonden Maid, in dem ich einen Fingerzeig zum Thema „Erfüllung“ an meine Nachkömmlinge eingebaut habe. Begehren an sich ist schon ein Gefühl, das wir genießen sollten. In der konsumorientierten Gesellschaft wird das kaum wahrgenommen. Auf etwas hinzuleben, etwas zu erstreben, ist Quelle von Frohsinn und Inspiration, die wir als Geschenk empfinden sollten. Und natürlich ist in diesen Abschnitt auch mein eigener Wunsch eingewoben, mit meiner Angetrauten soweit fortzuschreiten, dass uns das Kunststück im Verein und ohne hilfreiche Pillen gelingen möge.

Nachdem sich die Abläufe einmal aus Aurelias Perspektive und aus Sicht der Eltern vollzogen haben, ist die Jungfer nun auf sich selbst gestellt. Eine Übermacht von zehn Soldaten jagt sie. Unerfahren wie die Maid ist, glaubt sie zunächst, einfaches Verstecken würde ihr genügen, um der Bosheit zu entwischen. Aber ihr Vorteil, ein supersicheres Refugium zu kennen, verkehrt sich ins Gegenteil, wie sie lernen muss. Sie bedarf doch noch der Hilfe von außen. Der Berggeist lässt sie ein zweites Mal durch den Tunnel zu sich ein, nachdem ihr wiederum vom Hüterwesen der Ulmen die Fluchtchance offeriert wurde. Allerdings werden ihr Glaube und ihre Geschicklichkeit gefordert. Ohne diesen Eigenbeitrag wäre ihr das Entrinnen nicht geglückt. Die Heldin beginnt sich zu entwickeln.

Behütet wird sie durch den das Erdinnere geleitet und gerät in eine völlig neue, ihr unvertraute Gegend. Jedoch ist Selbständigkeit im Leben keineswegs so einfach, wie es mancher Jugendliche meint. Es lauern mannigfache Gefahren. Prompt verstrickt sie sich in den Fängen eines Hauses der Verwirrung. Im realen Dasein mag das, was der Maid passiert, für einen jungen Erwachsenen ablaufen, wenn er in ein Lehrlingswohnheim, eine WG beim Studium oder zur Armee kommt. So war es zumindest in meiner Jugend. Als meine mittlere Tochter wie für gewöhnlich ihren auf Wortwiederholungen geschärften Blick über diesen Abschnitt gleiten ließ, ergänzte sie interessanterweise die Ursachen wie folgt: Gruppenzwang und falscher Freundeskreis, Unerfahrenheit und Ahnungslosigkeit über die Folgen (Thema Drogen) sowie Langeweile und fehlende Alternativen bezüglich Computerspiele und Fernsehen. Was das Letztere anbetrifft: Wahrscheinlich waren wir als Eltern nicht nachdrücklich genug, hätten öfter das Gemaule der Pubertierenden ignorieren sollen, wenn wir vorschlugen, ins Grüne, an einen Bach oder in den Wald zu fahren. Vielleicht hilft diese kleine Reflexion manchem Verfolger des Blogs, es bei seinem Nachwuchs besser zu machen.

Was alles die Moderne parat hält, um Heranwachsende systemkonform zu Konsumsklaven zu erziehen und welche Macht in diesen Dingen steckt, erlebt Aurelia nun in diesem Gasthaus, in das sie stolpert. Sie missachtet ihre Alarmglocken, ihre innere Stimme, die sie zunächst noch warnt. Ruck, zuck reißt sie der Strudel der perfekt ausgetüftelten Vergnügungsindustrie mit sich und lässt sie die Zeit vergessen. Ins Stammbuch geschrieben habe ich meinen Hauptadressaten und zudem allen Lesern hier mit der Szene einen wichtigen Satz: Wenn etwas kostenlos ist, bist du selbst die Ware!!! Jedermann sollte besonders wachsam sein, wenn ihm etwas ohne (erkennbare) Gegenleistung angeboten wird.

Was da so alles an Fallen aufgestellt ist, wird der Leser sicher leicht entschlüsseln können. Die Disco-Techno-Szene mit aufputschenden Mitteln lässt genauso grüßen, wie die Spielautomaten-Mafia oder die Verblödung aus der GEZ-zwangsfinanzierten Hofberichterstattung von ARD und ZDF. Das ist gern zu erweitern auf alle werbungsverseuchten Sender der Privaten und auf die Hollywood-Soße aus den Kinos, wobei in Filmpalästen gelegentlich noch häppchenweise Wahrheiten zu entdecken sind.

Gelegentlich wird Aurelia noch von ihrem schlechten Gewissen eingeholt, weckt sie die Sonne bzw. die Sehnsucht nach der Natur mit ihren ätherischen Kräften aus der Narretei. Aber die Verführungsbande sind stärker. Sie versinkt in dem Getriebe und das vierte Kapitel endet damit, dass sich die Hauptheldin in den von Leuforia aufgestellten Verlockungen tatsächlich fast selbst verliert.