Kapitel 5 – Adalwin wird von den Turkannen geraubt (Die Knabenlese)


Zum Helden wachsen und Großes vollbringen – in vielen Legenden oder Geschichten wird das den Protagonisten bereits in die Wiege gelegt. Sei es Jesus mit dem Weihnachtsglanz samt Engelheer oder Siegfried in der Nibelungensage.  Auch mancher Zeussohn erwies sich schon in den Windeln als solcher, in dem er zwei Schlangen erwürgte wie Herakles. In der Saga von Aurelia & Adalwin wollte ich ja vor allem den Prozess des Erwachsenwerdens spiegeln und habe bei dem Erdenkind, dem Jungen, ein anderes Szenario variiert: Erwähltsein – JA. Das hat das zweite Kapitel betont. Aber nicht automatisch ein Heros, der vom Schicksal dazu bestimmt wurde. Schließlich kam es mir auf den Prozess an, dazu zu werden und die dafür notwendigen Eigenschaften zu entwickeln.

Mit dem fünften Kapitel kehrt der Fokus zurück in Richtung Adalwin. Um seine besonderen Kämpfer- und Charakter-Fähigkeiten zu kultivieren, habe ich auf ein Element aus der Historie zurückgegriffen, ihn aus seiner behüteten Umgebung herausreißen und damit letztlich stärken zu lassen. Vier Jahrhunderte lang rekrutierten die Osmanen aus ihren christlichen Untertanen eine Führungselite für ihr Beamtenwesen und eine Sklavenarmee besonderer Schlagkraft durch die so genannte Devşirme bzw. Knabenlese. Wer sich intensiver damit beschäftigen will, der findet bei Wikipedia eine ganz vernünftige Darstellung oder auch hier in diesem Artikel im Internet  (http://www.tuerkenbeute.de/kun/kun_kri/Knabenlese_de.php).

Als Impulsgeber für den Jungenraub agiert Leuforia, die den Anstoß mit der negativen Absicht initiiert, ihren Antipoden auszuschalten. Sie nimmt Adalwin als Halbwüchsigen nicht hundertprozentig ernst. Daher probiert sie es eher auf elegante, minimalistische und weibisch-gehässige Art zu erledigen, indem sie „über die Bande spielt.“ Unter persönlichem Einsatz ihrer Reize hetzt sie den Großkhan der Turkannen auf, damit dieser für sie Bedienstete „pflückt“, wird der türkische Wortstamm von Devşirme exakt interpretiert. Den für sie auserkorenen Gegenpart per Kastration aus dem Weg räumen zu lassen, ist Teil ihrer Arroganz der Macht, offenbart ihr boshaftes Naturell und natürlich passt es als mephistophelischen Elements zum Roman, für das die Drachenschwester zuständig ist. Die erste Episode des fünften Kapitels endet im Grunde mit der Begegnung zwischen Leuforia und Adalwin. Sie realisiert, dass ihr ein ernsthafter Gegner ausgesucht wurde, glaubt sich aber am Ziel und tritt von der Bühne ab. Der Mohr bzw. Gülgerü hat seine Schuldigkeit getan.

Von meiner Seite möchte ich noch zwei Dinge anfügen. Zum einen kurz etwas zur Namenswahl. Wie alle geografischen Bezeichnungen bzw. die von Völkern werden diese in der Trilogie von Aurelia & Adalwin zwar verfremdet, nichtsdestotrotz sind sie wohl leicht zu enträtseln. Hinter den Turkannen verstecken sich die Türken, worauf auch die beiden Vornamen Gülgerü und Gündehau hinweisen. Beide Benimungen haben allerdings keine Bedeutung oder fußen auf alten Traditionen sondern sind reine Wortschöpfungen von mir, die mit der Eigenschaft des Türkischen kokettieren, den Umlaut „ü“ häufig zu verwenden. Bei Gündehau hat mich zudem noch der deutsche Name Günther und das Wort „Haudegen“ inspiriert.

Der zweite Anknüpfungspunkt ist zumindest für die, welche mit der Biografie des Autors vertraut sind, sicherlich ebenfalls leicht zu dechiffrieren. Im Blog ist es mehrfach angerissen: Ich bin mit dem Beginn der dritten Klasse Mitglied der Dresdner Kapellknaben (http://www.kapellknaben.de/) geworden und bin das bis zur Einberufung in die Nationale Volksarmee über elf Jahre geblieben, wobei ich die ersten acht Jahre im Institut dieses katholischen Knabenchores gewohnt habe. Emotional erlebt ein Junge von acht Jahren (zumindest war ich das noch 14 Tage seinerzeit) den Übergang vom Elternhaus zum Internatsleben in etwa so, wie ich das in diesem Kapitel für Adalwin geschildert habe. Meiner mittleren Tochter verdanke ich, dass sie mir einst in einem Alptraum den Schleier der Verdrängung von diesen Vorgängen gezogen hat und ich mein verletztes inneres Kind inzwischen um ein Gutteil heilen durfte. Wie beim Helden des Fantasyromans hat mir die Zeit von 1972 und 1980 sehr viele nützliche Eigenschaften beschert, ohne die Aurelia & Adalwin wohl nie zu Ende geschrieben worden wäre. Im Rückblick erkenne ich allerdings heute genauso den beträchtlichen Tribut, den eine Kinderseele zu leisten hatte – siehe auch meine Reflexion der damaligen Zeit in der Festschrift „Aus einer Wurzel“  (http://www.benno-gymnasium.de/schulbesuch/bennoshop/item/768-festschrift), die jene Zeit etwas näher beleuchtet (Gegen den Strom der Zeit – 2009).

Zur zweiten Episode des fünften Kapitels: Gaia erscheint Adalwin im Traum und ermuntert ihn, indem sie ihn an sein Instrument erinnert. Es ist die Musik und seine selbst erworbene Meisterschaft auf der Flöte, die ihn aus der Masse der Gefangenen heraushebt. Seine Kunst, die Herzen der Menschen zu erreichen und seinen Gefühlen über die Harmonien Ausdruck verleihen, sie dabei in die richtige Richtung lenken zu können, erweicht den Großkhan. Dieser wird zum Werkzeug der Vorsehung, begreift teilweise die Kabale, in die er geraten ist und will sich an der entlaufenen Kebse rächen. Einer Herzensregung gehorchend befördert er Adalwin zu seinem Wahlsohn, womit dieser dem ihm von der Drachenschwester zugedachten Los der Entmannung entrinnt.

Eingewoben in diese schicksalhafte Begegnung der zwei Männer ist meine persönliche Erfahrung mit der Trösterin Musik. Zu dieser hatte ich mich bereits bei den Hintergründen zum Kapitel 2 ausgiebig geäußert, so dass ich das nicht wiederholen möchte (siehe: Kapitel 2 – Adalwins Geburt und erste Jahre (Ein guter Freund)).

Im Kapitel fünf folgt darauf eine Begebenheit, die ich aus zweierlei Gründen eingestreut habe. Zum einen für die Logik des Romans. Das Verhältnis von Adalwin und Gündehau ist a priori ein Minenfeld. Der Herrschersohn wird entthront und kann sich eigentlich gar nicht anders verhalten, als sich vehement gegen den hergelaufenen Kuckuck zu wehren und seine Position als Erbe zu verteidigen. Um aus dieser natürlichen Schutzreaktion eine Freundschaft gar später Gefolgschaft zum Blühen zu bringen, bedurfte es zur Glaubhaftmachung nicht nur eines Erlebnisses, das die beiden zusammenschweißt. Der erste Baustein für das Verschmelzen des ungleichen Brüderpaares spielt sich auf der Rückreise ab. Gündehau wird von dem alamannischen Burschen aus den eisigen Fluten gerettet und wiederbelebt.

An dieser Reanimation kommt der zweite Aspekt zum Tragen: meine eingeflochtene Anleitung, wie ein Ertrinkender zu behandeln ist. An der Stelle wollte ich meine Kenntnisse bzw. langjährigen Erfahrungen als Rettungsschwimmer weitergegeben haben. Die Zahlen wurden zwar über die Jahre geändert. Das Verhältnis von Drücken und Entlasten des Brustkorbs und Beatmen wird inzwischen mit dreißig zu zwei empfohlen (siehe auch: https://www.drk.de/hilfe-in-deutschland/erste-hilfe/der-kleine-lebensretter/wiederbelebung/). Nichtsdestotrotz erschien es mir wichtig, nicht nur Meditationsanregungen in dem Fantasymärchen zu verpacken, sondern auch nützliche Dinge für den Alltag.

Der Abgesang des fünften Abschnitts wirft im Zeitraffer einen Blick auf die Jahre, die aus Adalwin einen besonderen Kämpfer heranreifen lassen. Als Ziehsohn des Großkhans genießt er eine vorzügliche Ausbildung in allem Militärischen. Das Nebeneinander der beiden Prinzen stachelt diese an und verstärkt den Effekt, sich die Waffenkunst mit besonderer Inbrunst anzueignen und die Fähigkeiten und Fertigkeiten zu trainieren, da sie sich in einem Dauerwettkampf befinden. Daher agieren sie in einer eigenen Liga, sind auf demselben Niveau und ihren Altersgenossen weit voraus. Eine weitere Basis dafür, dass zwischen ihnen kein böses Blut aufflammt.

Ein kleiner Stachel verliert sich dennoch nie aus Adalwins Herzen: die Sehnsucht nach der Heimat. Das Instrument des Großvaters belebt die Verbindung stets aufs Neue. Im Grunde wollte ich damit aber auch ausdrücken: Der heranwachsende Alamanne bleibt sich selbst treu und wird nie ganz assimiliert.